
Machine Vision automatisiert Impfstoffproduktion
Robotik | 3D-VisionEin weltweit tätiges Unternehmen musste die Impfstoffproduktion schnell hochfahren. Zum Be- und Entladen von Rollwagen mit den Impfstoff-Vials entwickelten die Goldfuß engineering GmbH und die SIMON IBV GmbH eine roboterbasierte Lösung. Für die durchgängige Automatisierung der Roboterzelle sorgt die Machine Vision Software HALCON.

Um eine große Menge an Impfstoff gegen einen weltweit auftretenden Virus schnell herstellen zu können, mussten innerhalb kürzester Zeit sehr große Produktionskapazitäten aufgebaut werden. Unerlässlich hierfür war ein hohes Maß an Automatisierung. In einem Prozessschritt werden mit Impfstoff gefüllte Stechampullen (Vials) von einem Förderband mittels Roboter in Schubladen abgelegt und später wieder entnommen. Spezielle Rollwagen dienen als Puffer- und Transfersystem zwischen Abfüllung, Qualitätskontrolle und Verpackung.
Die Goldfuß engineering GmbH entwickelte im Auftrag eines weltweit tätigen Produzenten für pharmazeutische Wirkstoffe eine neue Roboterzelle zum automatisierten Be- und Entladen der Rollwagen. Die SIMON IBV GmbH verantwortete dabei die Entwicklung des optischen 3D-Systems, mit dem der Roboter die Vials eigenständig und beschädigungsfrei greifen kann. Eine solche Automatisierungslösung war bislang nicht am Markt erhältlich. In vergleichbaren Anwendungen werden die Vials nach der Abfüllung manuell in Trays oder Boxen geladen, händisch auf Paletten oder in Kanbanwagen gestapelt und anschließend wieder depalettiert.
Roboter be- und entlädt Rollwagen mit Impfstoff

Die eingesetzten Rollwagen verfügen über neun Schubladen, wobei jede Schublade mit 24 Reihen und jeweils 46 Vials befüllt werden kann. Insgesamt finden auf einem Rollwagen also knapp 10.000 Vials Platz. Durch das Puffern einer solch großen Menge kann die Auslastung der Verpackungsanlage flexibel gesteuert werden. Da die Wagen fahrbar sind, können sie in Kühlkammern geparkt werden, sodass die Kühlkette nicht unterbrochen wird. Die Wagen werden händisch von den Mitarbeitern an der Anlage abgestellt, wodurch die exakte Position immer variiert.
Die besondere Herausforderung bei der Umsetzung lag darin, dass die Roboter trotz dieser Abweichungen immer exakt arbeiten müssen. Zudem ändert sich das Gewicht der Rollwagen und somit die Position der Schubladen beim Be- und Entladen permanent. Um die nötige Positionsgenauigkeit beim Greifen der Vials einzuhalten, muss die präzise Lage für jede Reihe stets neu ermittelt werden. Um diese Herausforderung erfolgreich zu adressieren und eine vollständig automatisierte Impfstoffproduktion zu gewährleisten, bedarf es eines leistungsfähigen 3D Vision Systems. Weiterer Vorteil dieses Systems: Aufgrund des automatisierten Prozesses lassen sich aus den Wagen einfach Stichproben entnehmen und nach der Qualitätssicherungsfreigabe dem Verpackungsprozess wieder zuführen.
3D Vision Technologien automatisieren Handling in der Roboterzelle
Die Hardware-Komponenten der Roboterzelle umfassen neben dem Roboter hochauflösende 3D-Kameras im Stereometrie-Verfahren mit Musterprojektion sowie Industrie-Rechnertechnik mit schnellen Prozessoren zur PC-basierten Auswertung. Für performante Bildverarbeitungsprozesse wurde die Machine Vision Software MVTec HALCON integriert. Als User-Interface zur Visualisierung und einfachen Bedienung der Roboterzelle kommt SIMAVIS® der Firma SIMON IBV zum Einsatz.
Im Rahmen des Prozesses schiebt ein Mitarbeiter zunächst einen Rollwagen in eine von zwei möglichen Positionen ein. Eine 3D-Kamera innerhalb der Roboterzelle lokalisiert den Rollwagen und prüft, ob die Schubläden offen oder geschlossen sind. In der speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) ist hinterlegt, ob der gerade zu bearbeitende Rollwagen be- oder entladen werden soll, welche Schublade zu öffnen ist und wo sich wie viele Vials befinden. Die 3D-Kamera nimmt jeweils ein Bild der zu öffnenden Schublade auf. Daraus erstellt HALCON ein Koordinatensystem und übermittelt es an den Roboter, sodass dieser die Schublade öffnen kann. Im nächsten Schritt nimmt die 3D-Kamera ein Bild des Inhalts der Schublade auf. Damit lässt sich ermitteln, wie viele Vials eingelagert sind und wo genau sie sich befinden. Zudem wird geprüft, ob einzelne Ampullen hochstehen oder umgekippt sind und somit nicht vom Roboter gegriffen werden können. Dabei kann der Greifer jeweils 46 Vials gleichzeitig aufnehmen. Nachdem eine Schublade vollständig entladen wurde, ermittelt die 3D-Kamera erneut die Position des Schubladengriffs, sodass der Roboter diese wieder schließen kann. Dieser Vorgang wird nun mit den restlichen acht Schubladen so lange wiederholt, bis der Wagen komplett entladen ist.
Hohe Anforderungen an die 3D Vision Technologien

„Die Entwicklung der Roboterzelle erfolgte unter hohem Zeitdruck, da der Bedarf am Impfstoff schnellstmöglich gedeckt werden musste“, erklärt Stephan Trunk von Goldfuß engineering. Dabei muss die Position der Vials mit einer Genauigkeit von 0,1 Millimeter erkannt werden – und das in einem Arbeitsraum von 800 x 600 mm sowie einer Tiefe von 600 mm. Um die schnelle Bereitstellung des Impfstoffs zu ermöglichen, muss das Be- und Entladen zügig erfolgen. Hierbei muss der äußerst wertvolle Inhalt der Vials verlässlich geschont werden.
„Es gab darüber hinaus zwei besondere Anforderungen an das 3D Vision System: Zum einen musste mit unterschiedlichen Materialien gearbeitet werden. Das Glas der Vials und das Metall der Rollwagen weisen durchsichtige, beziehungsweise reflektierende Oberflächen auf und sind nur schwer zu erkennen. Zum anderen funktioniert die Anlage nur, wenn die Roboter autonom im dreidimensionalen Raum arbeiten können. Dazu muss die Machine Vision Software über leistungsfähige 3D Vision Technologien verfügen“, weiß Daniel Simon, Prokurist und verantwortlich für den technischen Vertrieb bei SIMON IBV.
Machine Vision Software HALCON sorgt für höchste Performance und Robustheit

Um hier die notwendige Performance und Robustheit zu erreichen, entschieden sich die Projektverantwortlichen für die Machine Vision Software MVTec HALCON. „Aufgrund unserer langjährigen Erfahrung mit HALCON wussten wir, dass die Software über eine umfangreiche Bibliothek mit vielen leistungsstarken Methoden verfügt“, ergänzt Daniel Simon.
So kommen in der Roboterzelle verschiedene Machine-Vision-Technologien zum Einsatz – wie beispielsweise die Hand-Auge-Kalibrierung. Dabei wird das Koordinatensystem des Roboters und das der Kamera synchronisiert, sodass sich die Bewegung des Roboters präzise mit den Aufnahmen der Kamera abstimmen lässt. So ist es möglich, die Positionen und Ausrichtungen der Vials in Bezug zum Roboter exakt zu bestimmen. Parallel dazu kommt die ebenso in HALCON enthaltene 3D Vision Technologie „Stereo-Vision“ zum Einsatz. Sie ist für die 3D-Rekonstruktion konzipiert und besonders nützlich bei großen oder mittelgroßen, strukturierten Objekten. Zudem ermöglicht die Technologie die Qualitätskontrolle und die Positionserkennung von dreidimensionalen Objekten und berechnet 3D-Koordinaten auf Objektoberflächen.
Roboterzelle für die Impfstoffproduktion in nur sechs Monaten entwickelt
Die Anlage wurde im Juli 2021 in Betrieb genommen. Dabei ließen sich die hohen Anforderungen an Geschwindigkeit und Präzision eins zu eins adressieren. „Wir haben innerhalb von nur einem halben Jahr eine völlig neue Roboterzelle entwickelt und prozessstabil zum Laufen gebracht. Somit haben wir einen wichtigen Beitrag geleistet, um die Impfstoffproduktion gegen ein gefährliches Virus zu beschleunigen“, resümiert Stephan Trunk von Goldfuß engineering. Und Daniel Simon ergänzt: „Dieses Projekt zeigt, welche Möglichkeiten Machine Vision bietet. Aufgrund der erfolgreichen Umsetzung planen wir, weitere anspruchsvolle Aufgaben zu automatisieren.“