Machine vision – (fast) überall einsetzbar

Nein, mit Photoshop hat die industrielle Bildverarbeitung nichts zu tun. Die Bedeutung und Anwendungsmöglichkeiten sind aber mindestens genauso spannend.

Automatisierung und Digitalisierung halten in immer mehr Wirtschaftsbranchen Einzug. Neusortierte Lieferketten, Fachkräftemangel und immer kürzere Produktlebenszyklen sind nur ein paar der Schlagworte, die ihre Verbreitung fördern. Die industrielle Bildverarbeitung wird damit mehr und mehr zu einer Schlüsseltechnologie. Sie bereitet den Weg, um die Prozesse entlang der gesamten industriellen Wertschöpfungskette hochgradig zu automatisieren und zu optimieren.

Mario Bohnacker Director Customer Services bei MVTec

Die industrielle Bildverarbeitung (Machine Vision) hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr als unverzichtbare Technologie für Unternehmen aus verschiedensten Branchen etabliert. Als „Auge der Produktion“ hat Machine Vision sämtliche Prozesse rund um Fertigung und Logistik immer im Blick. Aber wie sieht eine Machine-Vision-Anwendung in der Praxis aus? Welche Komponenten braucht man dafür, welche konkreten Vorteile bietet die Technologie und wo kann sie diese am besten entfalten? Auf diese und weitere Fragestellungen soll hier eingegangen werden.

Zunächst zu den Grundlagen: Für eine Machine-Vision-Applikation bedarf es Hardware und Software-Komponenten. Als Hardware benötigen wir sogenannte Bildeinzugsgeräte. Dabei kann es sich um Kameras oder Sensoren handeln, die an verschiedenen Stellen im Produktionsumfeld positioniert sind. Die Geräte nehmen die Abläufe auf und erzeugen große Mengen an Bilddaten. Im bildhaften Vergleich zum Auge stehen die Kameras und Sensoren also für die Linse, durch die das Geschehen wahrgenommen wird.

Machine Vision – Das Auge der Produktion

Wie in einem Gehirn müssen die aufgenommenen Informationen verarbeitet werden, um sie nutzen zu können. Diesen Teil übernimmt eine Machine-Vision-Software, die in den Prozess integriert ist. Sie verarbeitet die Daten und stellt die Ergebnisse zur weiteren Verwendung bereit. Dazu stehen eine Reihe von Methoden und Technologien zur Verfügung. Insbesondere Deep Learning, eine Spielart der Künstlichen Intelligenz, eröffnet spannende und völlig neuartige Anwendungsfelder.

Das Besondere an Machine Vision ist, dass sie tatsächlich wie beim menschlichen Sehen verschiedenste Objekte und Zusammenhänge erkennen und sie in den Kontext der Produktion setzen kann. Dies eröffnet vielfältige Möglichkeiten für Anwendungen in verschiedenen Prozessen: So lassen sich Objekte automatisiert im Warenkreislauf identifizieren und zuordnen. Wie? Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Zum einen geschieht das anhand rein äußerer Merkmale wie Farbe, Form oder Textur. Industrielle Bildverarbeitung erkennt Objekte zudem durch aufgedruckte Zahlen- und Buchstabenkombinationen.

Darüber hinaus gibt es viele weitere Einsatzmöglichkeiten von Machine Vision in der Produktion. Schlagwörter sind Industrie 4.0 und digitale Vernetzung. Dafür ist Machine Vision eine Schlüsseltechnologie. Nehmen wir die Qualitätssicherung: Mit der industriellen Bildverarbeitung lassen sich alle erdenklichen Arten von Fehlern an Objekten finden. Und das rund um die Uhr, sieben Tage die Woche und verlässlicher sowie genauer als es das menschliche Auge je könnte. Damit aber nicht genug. Im Sinne der vernetzten Produktion können die betreffenden Produkte automatisiert als Ausschuss klassifiziert und aussortiert werden, bevor sie in die weitere logistische Prozesskette gelangen.

Machine Vision und Roboter – ein Dreamteam

Und auch in der Robotik ist die industrielle Bildverarbeitung vielfältig einsetzbar. Klassische und kollaborative Roboter, das sind Roboter, die ohne Schutzvorrichtung direkt mit dem Menschen zusammenarbeiten können, nutzen die Technologie, um Objekte aller Art präzise zu greifen, zu bearbeiten und abzulegen. Dadurch steigt der Mehrwert des Roboters, weil er mehr Aufgaben eigenständig durchführen kann. Auf diese Weise kann die Produktion durchgängig automatisiert werden. Ein Beispiel hierfür ist der Robotereinsatz in der Logistik, genauer beim Be- und Entladen von Paletten: Hierbei wird der Roboterarm mit einer Industriekamera versehen. Mit Hilfe einer Machine-Vision-Software werden die Objektpositionen ermittelt und an die Steuerung des Roboters gesendet. So ist der Roboter nun in der Lage, Gegenstände auf Paletten als einzelne Objekte zu erkennen, diese zu greifen und – etwa auf einer anderen Palette – abzulegen. Er kann also „sehen“. Aber auch ohne Roboter gibt es vielfältige Einsatzmöglichkeiten der industriellen Bildverarbeitung in Logistik und Intralogistik. Für die Identifizierung sind alle Objekte mit Barcodes ausgestattet. Damit werden sie durch Machine-Vision-Software verlässlich identifiziert und können lückenlos nachverfolgt werden. Die entsprechende „Beobachtung“ eines Gegenstandes beginnt bereits beim Materialeingang. Das Managementsystem des Lagerhauses weiß automatisch, welche Inhalte angeliefert wurden. Auch bei der Prüfung auf Qualität und Vollständigkeit sowie bei der Erkennung freier Regalplätze im Lager kommt die industrielle Bildverarbeitung zur Anwendung. Zudem wird der Kommissionierungsprozess durch die Identifikation und Entnahme der richtigen Artikel automatisiert.

Wo kann Bildverarbeitung überall eingesetzt werden?

Die Frage ist eher: Wo nicht? Ob Automobilbranche, der Maschinen- und Anlagenbau oder die Nahrungsmittel- und Getränkeproduktion, überall kann Machine Vision unterstützen. Und auch die Elektronikindustrie profitiert in besonderer Weise von der Technologie – zum Beispiel die Halbleiterfertigung. Die Komplexität ist hierbei aufgrund der vielen Produktionsschritte und besonderen Genauigkeiten sehr hoch. Klar, dass hier die Qualitätskontrolle von großer Bedeutung ist. Und damit kommt natürlich auch Machine Vision für die anspruchsvollen Inspektions- und Prüfaufgaben ins Spiel.

Zeit ist Geld

Die maschinelle Inspektion mittels industrieller Bildverarbeitung ist wesentlich schneller, die Ergebnisse sind objektiv und reproduzierbar und die Qualität der Inspektion läuft nicht Gefahr, z. B. durch Ermüdung oder durch die Monotonie der Aufgabe nachzulassen. Daher ist Machine Vision gerade für Highspeed-Anwendungen prädestiniert. Ein Beispiel: Um die Position eines beliebigen Objektes hochgenau zu lokalisieren, braucht es weniger als 10 Millisekunden. Zum Vergleich: Ein Wimpernschlag dauert 300 bis 400 Millisekunden.

Aber die industrielle Bildverarbeitung kann noch mehr. Gerade bei der vernetzten Produktion oder in Kombination mit der „Cloud“ eröffnen sich eine ganze Reihe von Anwendungsfeldern. Große Mengen an Bilddaten können beispielsweise für die vorausschauende Wartung genutzt werden. Die notwendige Maschinenwartung, etwa in Folge von Verschleißerscheinungen wird nun sofort erkannt, was letztlich Maschinenstillstände verhindert und die Wartungskosten reduziert.